Wer die Jugendkultur von heute verstehen will, muss YouTube verstehen. Die Video-Plattform von Google hat die Spielregeln der Medienwelt verändert. Ein Feature mit unter anderem Oguz Yilmaz, Hannah Thalhammer und Ultralativ.

| Das Radio-Feature ist zuerst am 26.10.2017 bei NDR Info – Das Forum erschienen. Das Manuskript wurde zur besseren Lesbarkeit leicht angepasst |


Oguz: Mein Name ist Oguz Yilmaz. Wir waren die erfolgreichsten YouTuber Deutschlands. Insgesamt alle unsere Videos wurden über eine Milliarde Mal gesehen. Und drei Millionen Leute haben anscheinend über all die Zeit auf „abonnieren“ bei uns gedrückt. Und unter 30 kennt jeder Y-Titty.

Der Name Y-Titty steht für einen YouTube-Kanal, der YouTube-Deutschland geprägt hat wie kein anderer. Y-Titty, das waren drei Freunde, Oguz, Phil und TC. Für deutsche Jugendliche waren sie etwa so bekannt wie für Erwachsene Thomas Gottschalk. Von 2006 bis 2015 zeigte Y-Titty jede Woche Videoclips mit Comedy, Klamauk und scherzhaft umgedichteten Popsongs. Die Geschichte von Y-Titty ist typisch für die Geschichte vieler deutscher YouTube-Stars. Einfach Schüler, die ihre Spaßvideos ins Internet stellen.

Oguz: Also Philipp und ich waren einfach Sitznachbarn, ich würde mal sagen, wir waren die Klassenclowns. Das einzige, was wir hatten, war, ich hab ein bisschen fotografiert und Philipp hat halt ein bisschen Klavier gespielt. Und deswegen waren wir auch bereit, wirklich uns das alles selbst beizubringen und einfach Tag und Nacht da dran zu sitzen.

Nach dem Schulabschluss können Oguz Yilmaz und seine Freunde schon von ihren Comedy-Videos leben, die Zahl der Abonnenten wächst und wächst. Die drei Schüler aus der fränkischen Provinz ziehen nach Köln, und Y-Titty wird ein Medienunternehmen. Mit Kamermann, Cutter, Praktikant, Anwalt, Buchhaltung, Management. Es folgen ein Musik-Album in den deutschen Charts, eine Tour, ein Riesenkonzert vor dem Brandenburger Tor mit rund 700.000 Zuschauern, zwei Bücher, Auftritte bei TV Total, Harald Schmidt – und den Tagesthemen.

Caren Miosga, Tagesthemen: Das Komiker-Trio Y-Titty erreicht mit seinen YouTube-Videos ein Millionenpublikum, und zwar nicht nur, weil das Internet schneller ist als die alte Tante Fernsehen, sondern weil es auch eine eben nicht von Fernsehproduzenten zurechtgestutzte, anarchische Form von Comedy zulässt.

Das ist das Geheimnis von YouTube: Es ist nicht so hochpoliert wie das Fernsehprogramm. Wenn Oguz Yilmaz in seinen Videos auf der Couch lümmelt, das Shirt zerknittert, die Haare zerzaust, und Kommentare seiner Fans vorliest, dann wirkt er wie der nette große Bruder. Keine Spur von den Angestellten im Hintergrund. Ein Problem wird das, wenn die Fans zufällig rausfinden, wo dieser nette große Bruder gerade wohnt.

Oguz Yilmaz | Foto: Sebastian Meineck

Oguz: Ich glaub das Krasseste war wirklich so an einem Freitagabend, keine Ahnung, es war so acht oder neun, da klingelts auf einmal an der Tür. Und dann mach ich halt auf und dann standen da einfach ein paar Jungs. Das war so, als wollten die gerade einen Kumpel besuchen. Wirklich, die standen einfach so da und dachten, glaube ich auch, dass ich die jetzt nach Innen einlade. Und das ist super schwierig in dem Moment dann irgendwie richtig zu reagieren, weil die meinen es ja nicht böse. Weil man halt wirklich wie’n Buddy ist. Man ist ja nicht der unerreichbare Star, sondern ich bin halt der Typ von nebenan für die.

Die Nähe der Fans zu ihren Idolen ist leidenschaftlich – und lässt sich für Werbezwecke nutzen. Das weiß auch Hannah Thalhammer. Die 26-Jährige steht für YouTube vor der Kamera und berät Firmen, die mit YouTubern Werbung machen.

Hannah: Wenn ich mir einen YouTuber ansehe, und dann treffe ich den in Natura – ist mir wirklich auch schon so passiert – ich will zu dem hingehen und ich hab das Bedürfnis, diesen Menschen zu umarmen, obwohl ich ihn noch nie live gesehen habe und dieser Mensch mich nicht kennt. Wenn diese Person mir jetzt also etwas empfiehlt, weil sie es gut findet und weil sie gute Erfahrungen damit gemacht hat, dann bin ich viel eher gewillt mich für dieses Produkt zu interessieren und kaufe das auch viel eher, weil ich eine direkte Verbindung dazu bekomme.

Längst haben YouTuber gelernt, ihr Kumpel-Image für Werbezecke auszunutzen. Viele große YouTuber haben eigene Fanartikel, die sie offensiv in ihren Videos anpreisen. Bibi, Luca und Ksfreak verkaufen zum Beispiel Badeschaum, Bettwäsche, Baseball-Caps. Ist YouTube bloß eine Werbemaschine?

Hannah Thalhammer | Foto: Sebastian Meineck

Hannah: Es ist auch eine Werbemaschine, ja. Im Sinne von, du kannst von YouTube leben, deswegen würde ich es jetzt auch als Werbemaschine bezeichnen. Aber ich finde, das ist was Positives und nichts Negatives, wie manch einer vielleicht behaupten mag. Weil ich einfach die Möglichkeit habe, von meiner Passion zu leben, dank YouTube.

Irgendwo muss das Geld ja herkommen. Was viele unterschätzen: YouTube ist ein Hauptberuf. Die Werbung ist überlebensnotwendig, genauso wie Anzeigen in der Tageszeitung. Ohne Werbung könnten viele Videos gar nicht entstehen. Geld verdienen können YouTuber auch durch sogenannte Produktplatzierungen. Das heißt, sie plaudern über Markenprodukte und werden dafür bezahlt. Wenn YouTuber das tun, müssen sie das aber kennzeichnen, sonst drohen teure Abmahnungen. Fragt sich nur: Wie manipulativ ist das? Schließlich schauen sich das Minderjährige an.

Hannah: Ich finde, wenn du eine Produktplatzierung machst, dann muss sich das natürlich in das Video integrieren. Dann erzählst du eine Geschichte rundherum über das Produkt. Sodass es eben nicht diese klassische Werbung ist, dieses in your face, kauf mich, kauf mich, kauf mich, sondern einfach natürlich in das Video verwoben wird.

Ein Produkt in eine Geschichte einbetten, das kann zum Beispiel so aussehen: Hannah Thalhammer dreht ein Comedy-Video. Ihr Kunde ist ein Online-Flohmarkt. In dem Video gibt Hannah Tipps, wie man die Wohnung entrümpelt und seinen Plunder loswird. Um den  Online-Flohmarkts selbst geht es dabei scheinbar nur beiläufig.

Werbung, Service und Unterhaltung, eng ineinander verwoben. So wird auf YouTube Geld verdient. Das ist weniger nervig als lange Werbestrecken im Fernsehen, aber auch schwerer zu durchschauen. Vermeiden lassen sich Werbebotschaften von berühmten YouTubern jedenfalls nicht. Junge Zuschauer brauchen viel früher viel mehr Medienkompetenz.

Hannah: Werbung hat ja immer, wenn du so willst, immer etwas Manipulatives in Anführungszeichen. Aber… jetzt  muss ich aufpassen was ich sage, weil ich das nämlich beruflich mache… Ich glaube, man darf das nicht unterschätzen, wie bewusst die Leute dann doch auch zuschauen. Also, wenn sie sehen, dass das ein Produktplatzierung ist, dann wissen die das auch, dass es eine Art von Werbung ist, die ich in dem Fall mache. Und dann ist das nichts anderes, als die Werbung, die sie auch so sehen.

Empfänglich sind die Fans nicht nur für die Werbung ihrer Idole, sondern auch für ihre politischen und moralischen Ansichten. Der Grund: Mehr noch als klassische Popstars schleichen sich YouTuber ins Leben der Zuschauer ein, sagt Videoblogger Paul vom Kanal Ultralativ.

Paul: YouTuber suggerieren eine ganz andere Form von Nähe. Sagen wir, jemand macht drei Videos pro Woche und in jedem Video wirst du mit „Hallo, meine Freunde!“ begrüßt. Gerade wenn du jung bist und diese Person eh schon gut findest, kriegst du irgendwann das Gefühl dass das tatsächlich ein realer Freund von dir ist.

Unter dem Namen Ultralativ kommentieren die Studenten Paul und Fynn die Kultur von YouTube-Deutschland. Sie finden, YouTube-Stars lösen vor allem eines aus: Fanatische Fanliebe.

Fynn und Paul von Ultralativ | Foto: Sebastian Meineck

Paul: Man sieht es immer wieder auf Twitter auch, dass für einige Fans dann tatsächlich dieser YouTuber zum Lebensmittelpunkt wird. Das Zimmer ist dann ausstaffiert nur noch mit Bildern von diesen YouTubern. Und das bedeutet für diese Jugendlichen, dass sie auf gewisse Weise abhängig werden, dass sie denen auf gewisse Weise auch blind folgen und die blind verteidigen.

Wer ein paar Lieblinge auf YouTube hat, kann sogar seine ganze Freizeit mit ihnen verbringen. Mehrmals am Tag posten die YouTuber Fotos und Videoclips auf Instagram und Motivationssprüche auf Twitter. Alle paar Tage kommen neue Videos, die von den Fans tausendfach kommentiert werden. Wie heftig die Fanliebe werden kann, hat Ex-YouTube-Star Oguz Yilmaz von Y-Titty an einem verrückten Beispiel erlebt. Mit einem schlichten Kleidungsstück hatte der Videomacher, ohne es zu wollen, einen Trend gesetzt.

Oguz: Also ich hab von meiner Frau einfach mal so einen Schal zu Weihnachten bekommen. In einem Video habe ich den halt getragen, der war so bunt. Und dann wollten alle wissen, wo der ist. Und dann war der überall ausverkauft. Ich hab keine Ahnung, warum. Das war voll verrückt, einfach nur. Das konnte ich auch gar nicht glauben, dass da Leute was nachkaufen, nur weil ich’s getragen hab. Und als wir uns dann getroffen haben irgendwo mal und dann mir so stolz zeigen, hey ich hab auch den. Und dann ich so hä, ja und, was bringt mir das jetzt, dass du dasselbe anhast, wie ich?

Y-Titty auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, das sind Mitte Zwanzig-Jährige, die Comedy für 15-Jährige machen. Berufsjugendliche, die sich lieber keinen langen Bart stehen lassen, weil die Fans noch keinen haben. Und die aus reiner Routine eine Songparodie nach der anderen vom Stapel lassen, weil die Fans das erwarten.

Den YouTube-Kritikern von Ultralativ könnte das mit dem Schal nicht passieren. Die Studenten Paul und Fynn zeigen ihre Gesichter nicht in ihren Videos. Auch ihre Nachnamen behalten sie lieber für sich. Denn nicht alle, die von Paul und Fynn kritisiert werden, sind freundliche Leute. Einige vermeintliche YouTube-Vorbilder nutzen ihren Einfluss und predigen Sexismus, Homophobie und Gewalt.

(JuliensBlog) „Ich seh ohne Schminke aus wie gemalt. Und jede Schlampe muss sich mindestens ein Kilo Make-up in die Fresse schmieren, damit sie wenigstens aussieht wie ein Mensch. Ist das nicht bitter?“// (Mert) „Und bei mir, ich toleriere Schwule einfach nicht, ich akzeptier‘ das nicht. Okay, ich sage, ich bin gegen Schwule, akzeptiert das. Das müsst ihr akzeptieren. Meine Meinung müsst ihr akzeptieren.“

Nein, das muss man nicht akzeptieren. Die öffentliche Aufregung über Entgleisungen wie diese hier von den YouTubern Mert und JuliensBlog ist aber oft begrenzt. Denn YouTube gilt für viele als Nische. Schlagzeilen machte nur die zuletzt zitierte, homophobe Hassrede, wenn auch mit Verzögerung.

Paul: Ich glaube, dass YouTube von klassischen Medien zu wenig beachtet wird. Wenn ein bekannter Schauspieler sich in der Öffentlichkeit daneben benimmt, würde es in den Medien einen Riesenskandal geben. Wenn es innerhalb von YouTube passiert, kriegt man es in der Öffentlichkeit nicht mit. Und ich glaube, das ist einer der großen Gründe, warum sich viele YouTuber sehr, sehr sicher fühlen in dem was sie tun.

Skandale unter dem Radar der klassischen Medien, das passiert auf YouTube regelmäßig. Wer maximale Aufmerksamkeit will, bekommt die eben am schnellsten durch Provokation. Dabei entstehen auch Kunstfiguren, die nichts lieber betonen, als dass sie keine Kunstfiguren sind.

Paul: Auf YouTube ist Authentizität eine Währung. Es geht sehr sehr vielen Zuschauern ganz ganz stark darum, dass ihre Idole oder die YouTuber, die sie gucken, authentisch sind. Deswegen kriegt man das ja auch wahnsinnig oft mit, dass dann bestimmte YouTuber in ihren Statement-Videos anfangen zu sagen, dass sie die „realsten“ sind.  Das finde ich sehr faszinierend.

Besonders häufig betont beispielsweise der YouTuber Tanzverbot seine Realness.

… und wird mit jedem Satz mehr zu Kunstfigur. Wie er verzichten einige YouTuber bewusst auf teure Kameras oder teure Mikrofone. Es soll nicht so klingen oder aussehen wie eine Hochglanzproduktion, sondern wie ein Hobbyfilm. Wenn sich Eltern Sorgen machen, was ihre Kinder da eigentlich schauen, hat YouTube-Kritiker Paul einen Vorschlag.

Paul: Ich glaube, es ist wichtig zu gucken, was die eigenen Kinder gucken. Zu viel Kontrolle ist auch nicht gut, weil die Kinder dann irgendwann auch  ziemlich angenervt sind. Aber so einen generellen Überblick darüber zu haben, was auf der Plattform passiert, wen sich die Kinder angucken, sich das selbst anzugucken, ist bitter nötig, weil diese Plattform so viel Einfluss auf viele Jugendliche und jüngere Menschen hat.

Wie das Fernsehen bietet YouTube aber auch gute Vorbilder. Viele YouTuber nutzen die Fanliebe, um positive Werte zu vermitteln.

Hannah: Wenn ich dann über Themen wie Feminismus oder Sexismus spreche, dann schauen sich das auch 10-, 11-, 12-Jährige an, und die schreiben dann teilweise auch unter die Videos: Was ist Sexismus? Aber das ist toll. Weil dann denke ich, wow, super, das ist genau richtig. Weil, so etwas hätte ich gerne als 10-,11-, 12-jährige gehabt. So jemanden, der irgendwie auch vielleicht ne Art Vorbild ist, und mir dann aber irgendwie so wie eine große Schwester erklärt: Was ist Sexismus.

Große Schwester, großer Bruder, und das für Hunderttausende Minderjährige: Das kann auch mal zu viel werden. YouTube-Star Oguz Yilmaz ist Schüler, als er seine ersten Videos dreht. Später dann, mit 23, ganz oben angekommen, fühlt sich Oguz Yilmaz zu alt für YouTube.

Oguz: Die Leute haben uns zwar so kennengelernt, aber eigentlich entwickeln wir uns ja. Und dann standen wir halt schon so im Zwiespalt, dass wir eigentlich nicht mehr wir waren. Zum Beispiel, halt wirklich, banales Thema: Rasieren wir uns dauernd und sehen auch wirklich aus wie da und verhalten uns so? Oder entwickeln wir uns auch weiter?

Beim Fernsehen wechseln alternde Stars den Sender oder erfinden sich neu. YouTube kennt so etwas noch nicht. Die Formate sterben eher, als dass sie erwachsen werden. YouTube, ein Ort der ewigen Jugend.

Oguz: Wir haben jedes Format mal gemacht. Wir haben gar nicht mehr die Möglichkeit, uns neu zu erfinden. Weil Y-Titty eigentlich schon sowas fest Vorgegebenes war. Wir können ja nicht sagen, wir machen jetzt einfach Politik. Oder ernst. Also dieses Format hat sich einfach über all die Zeit – weil wir so omnipräsent waren, und auch wir als Gesichter – einfach verbraucht.

Im Jahr 2015, nach monatelangem Hadern, schmeißt Y-Titty hin – mit einem Abschiedslied.

Drei Millionen Y-Titty Fans müssen sich neue Idole suchen. Oguz Yilmaz gründet eine Agentur und berät fortan jüngere YouTuber bei ihrer Karriere. Ein alter Hase mit Mitte Zwanzig.

Oguz: Also ich fühl mich teilweise schon wie… 40. Wir haben ja schon mit 24 den Ehrenpreis für unser Lebenswerk bekommen. Wir sind ja schon offiziell tot. Ich mein, jetzt so langsam sind aus meinem Jahrgang mit dem Abi die Leute mit ihrem Studium fertig, mit dem Master. Also das realisier ich manchmal gar nicht so krass.

Dort, wo Oguz Yilmaz ganz am Anfang stand, steht die Schülerin Jackie Alice heute.

Jackie: Ich bin Jackie, ich bin 14 Jahre alt, und ich mache auf YouTube, Lifestyle, Fashion-Videos, Comedy, und dann rede ich auch manchmal über ernstere Themen.

Bis zu drei Videos veröffentlicht Jackie jede Woche auf ihrem Kanal. Mittlerweile hat sie mehr als 40.000 Abonnenten. Für YouTube-Maßstäbe ist das wenig. Längst kann man nicht mehr überblicken, wie viele deutsche YouTuber schon über eine Million Abonnenten haben. Für Jackie sind 40.000 mehr, als sie je erwartet hat.

Jackie: Also ich glaub im ersten Monat gab es schon so 300 Klicks oder so, das hat mich richtig gefreut. Und irgendwann ging es richtig schnell hoch, dann war ich auch plötzlich bei 10.000, bei 15.000, das ging innerhalb von eins, zwei Monaten. Ich hab ehrlich gesagt richtig gefeiert, vor allem bei 1000, ich habe das glaube ich wochenlang gefeiert, also ja, das war ein sehr schönes Gefühl.

Fragt sich nur: Was hat eine 14-Jährige eigentlich zu erzählen, kreist ihr Leben doch vor allem um Schule, Hausaufgaben, Haustiere und Sport? Die Antwort: Jackie erzählt genau das.

Ziemlich banal, das alles. Und das ist der Punkt. Jackie will nicht mehr als das. Man kann ihre Videos nicht verstehen, wenn man sie mit Fernsehen vergleicht. Die Fans von YouTuberinnen wie Jackie finden in den Videos etwas, das viele Erwachsene nicht sofort begreifen.

Jackie: Also ich bin einfach ganz normal. Und ich glaube, man kann sich gut mit mir identifizieren, weil ich halt auch einfach ein junges Mädchen bin. Und wenn ich über bestimmte Themen rede, ist das anders, als würde eine 20-Jährige drüber reden. Und ich stelle mir halt so 12-, 13-, 14-Jährige Mädchen vor, die einfach vor ihrem Computer oder ihrem Handy sitzen und meine Videos schauen, so. Joa.

Mit 13, 14 Jahren findet man Leute toll, die ein bisschen älter und ein bisschen reifer sind. Warum also gekünstelte Teenie-Serien schauen und stilisierte Popstars feiern, wenn man auf YouTube reale Personen findet? Jackie vermutet, was die Zuschauer an ihr mögen.

Jackie: Ich glaube, es hat mit der Schule zu tun und mit den Dingen, die ich so am Tag mache. So, dass ich gute Noten schreibe, und dass ich dann halt auch für manche eine gute Figur habe, für manche halt nicht. Und dass ich viel Sport mache und motiviert bin. Das könnte dann vielleicht auch eine Vorbildfunktion sein.

Jackies Zuschauer schreiben ihr jede Woche Hunderte Nachrichten. Das sind Kommentare unter den Videos und persönliche Post auf Instagram. Und Jackie hat den Ehrgeiz, alles davon zu beantworten, mindestens mit einem Herzchen.

Jackie Alice | Foto: Sebastian Meineck

Jackie: Also abends mache ich das meistens, so vorm Fernseher oder so. Dann bekomme ich nicht mehr so viel vom Fernseher mit, aber dann sitze ich da mal ein oder zwei Stunden und beantworte alle Instagram-Kommentare und Nachrichten.

Das muss man sich mal vorstellen: Auf YouTube können Jugendliche Idole finden, groß genug für eine eigene Fan-Gemeinschaft, klein genug, um private Nachrichten zu tauschen. YouTube ist wie ein Schulhof, ein soziales Netzwerk, in dem sich Fans mit Fans – und Fans mit Idolen austauschen.

Jackie: Also wenn irgendjemand ein Problem hat, dann schreibt er mir  das und dann versuch ich zu helfen. Und ich überlege den ganzen Tag eigentlich, wie ich das Problem lösen könnte. Da sind manchmal einfache Probleme wie, dass die beste Freundin gerade mit einem Streit hat. Und dann gibt es leichte Lösungen, und in einer Stunde haben die sich wieder vertragen.  Aber dann gibt es dann auch mal so größere Probleme, wie, dass jemand gestorben ist oder so. Und wenn jemand die ganze Zeit schreibt, das ist aber alles so scheiße, mir geht’s so schlecht und so weiter: Dann versuche ich ihm da irgendwie rauszuhelfen. Und dann sage ich ihm auch direkt ins Gesicht, dass Selbstmitleid einfach nichts hilft.

So funktioniert YouTube in der Amateur-Liga: verblüffend privat. Damit das nicht Überhand nimmt, zieht Jackie klare Grenzen.

Jackie: Ich werde auch oft gefragt, ob man befreundet sein möchte und ob man Kontakt aufbauen möchte. Manchmal tut es mir leid, denn man kann ja nicht mit 38.000 oder noch mehr Leuten befreundet sein, das wäre ja irgendwie seltsam. Und ich kann nicht mit jedem jeden Tag schreiben und die wollen auch meine Nummer und so weiter. Und einfach um fair zu sein, lasse ich das dann lieber ganz. Und die lasse ich dann auch nicht an mich heran. Wenn jemand dann aufdringlich wird, dann wird der blockiert.

Die Fans fühlen sich den Idolen nah, doch auch die Idole sind an die Zuschauer gebunden. Bleibt Jackie einige Tage lang offline und beantwortet keine Kommentare, dann machen sich die Leute Sorgen. YouTube-Kritiker Paul vom Kanal Ultralativ nennt das: Online-Zwang.

Paul: Der Online-Zwang von YouTubern beschreibt das Phänomen, dass man als großer YouTuber überhaupt nicht mehr die Möglichkeit hat, von sozialen Medien wegzukommen. In dem Moment, in dem man für ne Woche nichts auf Twitter oder Instagram postet, kommen direkt Gerüchte auf, dass man wahlweise tot, krank oder seine YouTube-Karriere beendet hat. Man hat teilweise überhaupt keine Freizeit mehr auf dieser Plattform, es wird sehr stark zum Lebensinhalt.

Längst wird Jackie auch umworben von Mode- und Beautyfirmen. Der 14-Jährigen winken Werbedeals und Kooperationen. Wer will, kann schon mit Dreißig- oder Vierizigtausend Abonnenten mehrere Hundert Euro im Monat verdienen. Auf den ersten Blick ein gewinnbringendes Hobby, von dem viele Jugendliche träumen.

Paul: Man bekommt das auch mit, wenn man sich mit Lehrern zum Beispiel oder Lehramtsstudenten teilweise schon unterhält, die einem dann erzählen, dass die Kinder wirklich schon den Zukunfts-Berufswunsch YouTuber oder Influencer haben. So früher wollte man Musiker werden, heute will man eher YouTuber werden.

Berufswunsch YouTuber: Hannah Thalhammer, Expertin fürs Geldverdienen mit YouTube, rät davon eher ab.

Hannah: Da sind dann ein paar 12-Jährige dabei, die sagen, Hey, ich hab so Bock, mein Traum ist YouTuber zu werden. Und da haben mir auch schon Eltern geschrieben. Kannst du mal meinem Sohn sagen, dass er da vielleicht das nochmal überdenken sollte? Das ist ein Job wie jeder andere auch, ja. Das sollte man nicht machen, um famous zu werden und auch nicht um dick Kohle zu scheffeln.

Den Weg der professionellen YouTuberin will die 14-jährige Jackie derzeit auch nicht gehen. YouTube ist für sie wie ein Tagebuch, das sie pflegt.

Jackie: Ich möchte auf jeden Fall YouTube weitermachen, um auch die Leute auf dem Stand zu halten. Ich hoffe auch, dass die Leute die jetzt 14 sind, das die bei mir bleiben, wenn ich mal 18 bin, oder so. Irgendwie sind wir ja gleich alt und wir wachsen ja auch zusammen auf.

Mit den Fans erwachsen werden, das ist Y-Titty nicht gelungen. YouTuber wie Jackie markieren die Grenze zwischen dem durchökonomisierten YouTube der Stars – und dem anarchischen YouTube für jeden. „Broadcast yourself“ lautete jahrelang der Slogan der Plattform. „Präsentier‘ dich selbst“. YouTube-Kritiker Fynn vom Kanal Ultralativ:

Fynn: YouTube ist Möglichkeit, mit Smartphones quasi komplett autark und losgelöst von jedem Computer ein komplett geschnittenes, gutes Video zu produzieren und aus den eigenen vier Wänden heraus sich selbst zu verwirklichen und damit potenziell die ganze Welt zu erreichen.

Das YouTube der Millionen-Stars ist nur die Spitze des Eisbergs. Jede Minute stellen Leute via YouTube 400 Stunden neues Videomaterial ins Netz. 400 Stunden pro Minute. Wenn man sich das alles in Echtzeit anschauen wollte, müsste man den ganzen Tag 24.000 Bildschirme parallel laufen lassen. Wer YouTube durchsucht nach den kleinen und kleinsten Nischen, der stößt auf eine faszinierende Welt: Private Einblicke, mit dem Smartphone gefilmt, roh und ungefiltert.

YouTube abseits der Trends, das ist ein Ort für Anfänger und Gelegenheitsfilmer, für Nerds und Weirdos, für alle, die in der Logik der Massenmedien nicht vor der Kamera landen, kurz: für alle.

Wer die Jugendkultur von heute verstehen will, muss YouTube verstehen. Jugendliche nutzen YouTube nicht wie das Fernsehen, sondern wie ein soziales Netzwerk. Jeder kann auf YouTube sein Idol oder sein Publikum finden. Die neuen Idole sind nahbare Vorbilder. Mit Ratschlägen helfen sie ihren Zuschauern beim Erwachsenwerden. Ein Smartphone reicht, um vom Zuschauer zum YouTuber zu werden. Die Kinder von heute können filmen, schneiden und vor der Kamera sprechen. Beigebracht haben sie sich das selbst. Mit ihren Videos und Kommentaren mischen sie sich öffentlich ein, zeigen ihren Humor und ihre Meinung. YouTube: eine Revolution der Jugendkultur.