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Da will der „Tatort“ einmal das Internet erklären und schon wird er selbst zum Täter. „Level X“ aus Dresden (Sendedatum 11. Juni 2017) entfesselt die Angst vorm Digitalen und drischt auf die Netzkultur ein.

Aber erst einmal wird ein YouTuber getötet. Der junge Simson hat sich durch Pranks und Livestreams einen Namen gemacht. Plötzlich liegt er blutend am Dresdner Schlossplatz, erschossen während eines Livestreams.

Die „Tatort“-Komissarinnen Sieland und Gorniak klappern die Verdächtigen ab. Viele haben Simson gehasst. Seine Ex-Freundin Emilia wird ihm nie vergeben und ihr neuer Freund plant Rache. Sein Arzt hat was zu verheimlichen, und YouTube-Kollege Scoopy fand Simson schon immer arrogant. Und dann sind da noch der Vater und der Manager und all die Fremden, die Simson durch seine Pranks gedemütigt hat.

Der Manager hält die Trauerrede am Schlossplatz in Dresden, während bedrückte Teenie-Fans Blumen zum Tatort tragen. „Simson lebt weiter, aber sein Channel ist tot“, sinnsprüchelt der Manager. Jetzt müsse ein neuer YouTuber an Simsons Stelle treten – und bei dem sollen die Fans „ultramäßig“ reinklicken!

Opfer deS konsums

Erst trauern, dann klicken, so skrupellos schlachtet der Manager den Tod seines Schützlings aus. Endlich erfahren die ARD-Zuschauer, wer die Menschen hinter YouTube-Deutschland wirklich sind: Geldgeile Gauner, die selbst noch die Toten entweihen.

Der „Tatort“ will offenbar die wildesten Fantasien des Technik-Pessimismus übertrumpfen. Wahnwitzige Webvideostars haben im dystopischen Dresden das Netz erobert. Wer sein Smartphone anschaltet, landet sofort in den sozialen Netzwerken, wo Prankster ihre Fans und Opfer aufscheuchen. Harmlose Dinge wie Wikipedia, Skype oder Candy Crush nutzt keiner mehr.

Wenn Simson live geht, zückt Dresden die Smartphones, und die Tram ist voll stummer Smartphone-Gucker, und in der Fußgängerzone bewegt sich nichts. Offenbar hat jeder Mensch Simsons Videos per Push-Notification abonniert, willenlose Opfer der Konsumgesellschaft. Nicht mal Deutschlands meist abonnierte YouTuber*innen Bibi und Gronkh haben je sowas ausgelöst.

Internet abschalten

Die dargestellte Webvideo-Szene ist derweil das Zentrum aller menschlichen Abgründe. Was da in 90 Minuten zusammen kommt, würde für die nächsten fünfzig Folgen „Lindenstraße“ reichen. Eine unvollständige Liste der Schrecklichkeiten:

  • Simsons Vater leidet an Tablettensucht.
  • Scoopy täuscht für die Kamera den Suizid vor.
  • Simson vergewaltigt Emilia vor laufender Kamera.
  • Emilia will sich das Leben nehmen.
  • Der neue Freund von Emilia will Simson das Leben nehmen.
  • Der Vater will dem Manager das Leben nehmen.
  • Der Manager verprügelt den Vater.

Botschaft: Das Internet treibt die Menschen dazu, sich selbst und andere zu zerstören. YouTube-Deutschland, ein Sündenpfuhl. Was auch immer man an den Mechanismen der Webvideo-Industrie kritisieren könnte – dieser „Tatort“ tut es nicht. Das ist keine Aufklärung über neue Medien, das ist Anti-Online-Propaganda. Wenn das eine Karikatur sein soll, ist sie krachend gescheitert. Karikatur heißt überspitzen, „Level X“ ist bis zum Umfallen abgestumpft.

Die Angst vorm Digitalen gipfelt im stumpfsten aller stumpfen Wünsche: Totale Verweigerung. „Kann nicht jemand dieses verdammte Internet einfach wieder abschalten?“, ruft Kommissariatsleiter Schnabel frei von Ironie und spricht damit den verzweifelten Zuschauer*innen aus der Seele. Wäre das Internet wirklich so furchtbar, ich würde es auch abschalten.

Foto: Pixabay (CC0)