Sie haben keinen festen Wohnsitz, aber sie sind online. Für viele Obdachlose heißt das Internet: ein soziales Leben haben. Mit Luxus hat das aber nichts zu tun.

Im Internet fragt keiner, ob Michael S. (Foto) gerade eine Wohnung hat. Der Ende 40-Jährige betreibt sein eigenes Amateur-Radio – mit Hits der Achtziger, Neunziger und von heute. In seiner Show geht es um Musik, nicht um Obdachlosigkeit. Die Lieder spielt er von der Festplatte, die Moderation spricht er ins Laptop-Mikro. „Wenn ich sende, habe ich so zwischen 100 und 150 Hörer“, erzählt er.

Sein Radio organisiert er selbst: Er bezahlt die Webseite, pflegt die Musik-Bibliothek, schreibt GEMA-Meldungen. Auf Sendung geht er, wenn das Guthaben auf seinem Internet-Stick ausreicht, oder wenn er auf anderem Weg ins Internet kommt.

Gerade übernachtet er im Gasthaus für Wohnungslose beim Diakoniedorf Herzogsägmühle, etwa eine Autostunde von München entfernt. Wer sich mit den Wohnungslosen in Herzogsägmühle unterhält, der lernt: Obdachlos und online sein, das ist mittlerweile ganz normal.

Unter der Brücke schlafen ist ein Klischee

So denkt auch Michael G. Er hat denselben Vornamen wie Michael S., aber eine andere Geschichte. „Am Internet kommt man in der heutigen Zeit fast nicht mehr vorbei“, erzählt er und zuckt mit den Schultern. Er war zwei Jahre mit seinem Laptop auf der Straße, nun lebt und arbeitet er bis auf Weiteres im Diakoniedorf. Wenn er an seine wohnungslosen Bekannten denkt, schätzt er: Acht von zehn haben einen Laptop oder ein Smartphone.

Das wird viele überraschen, die Wohnungslose vor allem von den Hauptbahnhöfen der Großstädte kennen. Noch immer gibt es das Vorurteil vom alkoholkranken Obdachlosen, der um ein paar Cent bettelt. Aber das ist die Ausnahme, betont Michael G.: „Die meisten, die jetzt auf der Straße sitzen, denen sieht man’s gar nicht mehr so an.“ Einige Wohnungslose meiden sogar bewusst die Großstädte, weil es ihnen da zu unsicher ist.

Gebrauchte Laptops sind leicht zu haben

Auch Michael G. musste vorsichtig sein, damit ihm der Laptop auf der Straße nicht geklaut wird. Nachts hat er ihn auch mal als Kopfkissen benutzt. Um ihn vor Regen zu schützen, hat er den Laptop in Plastiktüten gewickelt und im Rucksack verstaut.

Und wie ist das mit Strom und Internetzugang? „Damit hatte ich noch nie ein Problem“, sagt er. Strom gibt’s in Cafés und Wärmestuben. Ins Internet geht es mit offenem WLAN in Cafés und auf Marktplätzen. Oder mit Internet-Sticks für zehn Euro im Monat.

Neu sind die Laptops und Smartphones der Wohnungslosen aber nicht: Einige haben sie noch von früher. Andere bringen gebrauchte Geräte zur Reparatur oder tauschen sie untereinander. „Es ist erstaunlich, mit wie wenig Geld man diese Technik heute nutzen kann“, sagt Andreas Kurz von der Wohnungslosenhilfe in Herzogsägmühle.

Ist Internet ein Menschenrecht?

Kurz beobachtet seit Jahren die Digitalisierung der Wohnungslosen. Jede*r fünfte Wohnungslose, der im Diakoniedorf Hilfe sucht, schickt die erste Anfrage per E-Mail. Mit Luxus hat das für Kurz nichts zu tun: In seinen Augen gehört Internet fast schon zur Grundversorgung.

„Der freie Internetzugang wird zunehmend auch ein Thema von einem normalen Menschenrecht sein“, schätzt Kurz. Schließlich sei das Internet mittlerweile ein entscheidender Teil des Alltags – und jede*r solle daran teilhaben können. „Egal, ob mit oder ohne Wohnung, mit oder ohne Behinderung, egal, ob Flüchtling oder nicht.“

Viele Wohnungslose haben ihre Ausweise, Zeugnisse und Lebensläufe eingescannt und digital gespeichert. Im Internet suchen sie nach Jobs und Wohnungen und halten Kontakt zu Bekannten. Andere suchen einfach nur nette Gesellschaft. „Wohnungslosigkeit ist oft mit Scham besetzt“, sagt Kurz. Im Netz können sich Wohnungslose aber ohne Scham bewegen – und ohne Vorurteile neue Leute kennenlernen.

Online sein heißt: normal sein

Michael G. hat in öffentlichen Chaträumen zum Beispiel neue Bekannte gefunden. „Wir sind ja doch eine Spezies, die sehr gesellig ist“, sagt er. „Gerade in der Zeit braucht man irgendjemanden zum Reden, um mal ein paar Stunden normal zu sein.“ Normal sein, das hieß für ihn: Nicht als „Obdachloser“ abgestempelt zu sein. Einige Online-Bekanntschaften hat er sogar persönlich getroffen. Mit ihnen schreibt er heute noch.

Michael S. muss aktuell auf sein Radio verzichten. Das Guthaben auf seinem Internet-Stick ist zur neige gegangen. Die Webseite seines Online-Radios ist seit Tagen nicht erreichbar: Server nicht gefunden, heißt es. Warum das so ist, muss er noch herausfinden.

Deshalb will Michael S. bald wieder online gehen. Von seiner täglich ausgezahlten Sozialhilfe legt er sich immer ein paar Cent zur Seite. Damit bezahlt er seinen Internet-Zugang. „Ich bin so eine Art PC-Junkie“, gesteht er. „Wenn ich jetzt noch Internet hätte und ich 24 Stunden senden könnte, würde ich die meiste Zeit senden.“

Ein Radiobeitrag hierzu wurde im August 2016 auf Bayern 2 ausgestrahlt.